28.10.2012

SEIFENBLASENMOMENTE


5 Stunden? In Worten: Fünf? Für eine einzige Performance? Und das, obwohl im Medienzeitalter die durchschnittliche Weg-Zap-Zeiteinheit höchstens im Minutenbereich liegt? Wie soll das denn gehen? 


Man dürfe zwischendurch kommen und gehen. Schön, aber wieso verpasst man da nichts? Kann man sich doch gleich ganz schenken, oder? Egal, einmal hier, schaue ich es mir denn auch an. Das Publikum dürfe auch mittun, orakelt das Moderatorenduo.
Die Bühne ist fast leer. Zwei Stühle, ein überdimensionaler Wecker, ein Ghettoblaster, eine Batterie unökologischer Halbliter-Einwegwasserflaschen. Das Bühnengeviert rundum (nein, vorn ist ja offen...) mit Papierfahnen tapeziert. Herein kommen vier Spieler in exaktem Geschlechter-proporz, leger elegant gewandet, zwei in Glitzer, alle in Sportschuhen. Seltsam. Der Wecker wird eingestellt, eine Musikkassette (boah, 70er-Jahre-Technik!) eingelegt, zwei - sie werden sich Malte und Sarah nennen - setzen sich und bekritzeln mit Kreide je eine Papptafel, während Lea-Sophie sich im Hintergrund zur Kassettenmusik wiegt und Sascha etwas holperig irgendein Schreiben vorliest. 


Auf den Papptafeln lese ich Sprüche wie "WENN DU MICH RETTEST, STOPPE ICH DEN WINTER". Mit "WENN DU MICH RETTEST,..." fangen sie alle an. Was zum Teufel machen die da?
Mit Edding auf die Tapete gefilzte Spielregeln verringern das Befremden nicht: In mehreren 40-min-Runden werde um 1000 "Rettungspunkte" gespielt, die man erwerbe durch Abgabe von Versprechen, durch Einlegen von Mixtapes nebst Verlesen eines Briefes oder Ausführen von Aktionskarten.

Was wird das denn hier? Ist doch völlig balla-balla, denke ich.
Die Musik verendet. Stationswechsel gegen den Uhrzeigersinn (eine Metapher?), neue Kassette, neue Versprechen hingekritzelt, hochgehalten, weggewischt, hingekritzelt usw., mal witzig, mal Banane. Malte steht irgendwie rum und guckt. 

 
Ah, hinten hängen ja die Aktionszettel: Lea-Sophie hatte also "für Gleichberechtigung" getanzt, Malte steht auf einem Bein (ach, so) "gegen Atomwaffen". Ja, klar. Was auch sonst. Meine Lider werden schwer, die Nacht davor war kurz gewesen. Plötzlich Licht- und Musikwechsel, alle vier pusten Seifenblasen ins Publikum, Wechsel zurück, wieder Papptafeln, Lesen, Stehen. Was war da los? Irgendeine Zuschauerin hatte irgendetwas gemacht (ich hatte es nicht gesehen). Was hatte Sascha eingangs gelesen? Ein Mensch war auf die Gleise gestürzt (oder gesprungen?), niemand hätte eingegriffen, der Schreiber auch nicht, es waren ja genügend andere da... Irgendwie geht es um diese Passivität.

Noch ein paar Wechsel, der Wecker klingelt, die Akteure geben sich selber Punkte für authentisches, ehrliches, offenes Lesen, für ihr besonders engagiertes "Winken gegen Kinderpornographie", für das Generieren von "Seifenblasenmomenten", rechnen zusammen, 169 Punkte. 
 

Das ist ein bisschen amüsant, aber doch durchgeknallt!
Weiter. Einige Zuschauer gehen. Dann, allmählich geschieht es: Die Wahrnehmung wird schärfer. Rettungsversprechen antworten aufeinander oder wetteifern, Charaktertendenzen der jeweiligen Tafelinhaber scheinen dahinter auf, lassen eher hedonistische Züge oder die Neigung zum Aktivismus vermuten. 

Ich beginne auch die Briefe als sehr persönliche Auseinandersetzungen der Akteure mit brisanten Themen zu erkennen, ob Klima, Armut, Freiheit, Coming-Out, Mut, Krankheit. Sehr offen, sehr privat, sehr kontrovers. Immer wieder die Frage nach der eigenen Haltung.
  

Der etwas stockende, oft ungeübt wirkende Vortrag stört nicht mehr. Und die albernen Aktionen (Hüpfen, Hampeln, Putzen, Winken, Tanzen) gegen irgendetwas aus dem Spektrum der großen Schlagworte werden sichtlich anstrengend, die ca. 10 min Musiklaufzeit können da sehr lang sein. Seifenblasenmomente bringen besonders viele Punkte, sind aber nur durch Aktionen aus dem Publikum erzielbar. Ein helfender Eingriff meist, aber nicht jeder davon bewirkt Blasen. Die Regel wird nicht verraten. Peu a peu fühle ich mich den Vieren immer näher, leide mit und bin damit keineswegs der Einzige. Was kann/soll/muss ich tun, einem/einer von ihnen das - freilich selbstgewählte - Los zu erleichtern? Und wenn ich etwas total Falsches mache? Jemand geht auf die Bühne, hüpft tapfer mit: Seifenblasen. Klappt aber kein zweites Mal. Jemand ändert Sarahs Aktionskarte zu "tanzt" - sie blüht wieder auf: Seifenblasen! Ein Teller mit einem  kleinen frischen Schneemann wird gebracht: Seifenblasen! Es dämmert: Die kreative Idee zählt und der Charme dabei. Macht das Rettenwollen nicht eben einfacher. Aber immer spannender. Gerade wieder ein wundervolles Rettungsversprechen - und keine Idee zur Hand! Findet jemand anders etwas? Da, aus dem Publikum wird zurückgewinkt, es breitet sich auf den ganzen Saal aus - endlich wieder Seifenblasen! Zu selbstkritische Minderbepunktungen werden von Zuschauern heraufgesetzt. Hilfe beim Zusammenrechnen. Nicht immer Seifenblasen dabei und trotzdem ein gutes Gefühl.

Schließlich ist auch meine Mitleidphase überwunden. Ich höre den Briefen jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit zu, fühle mich hellwach, sensibel für meine Umgebung und eingreifbereit. Tiefsinnige Papptafeln erscheinen neben banalen.


Jetzt trennt sich die Spreu vom Weizen, denke ich noch und begreife im selben Moment: Die Spreu war Teil der Weizenpflanze, nur zusammen kann das Korn reifen. Ohne den Spaß, den kleinen privaten Genuss sind wir zu Großem gar nicht fähig.
Ob zum Schluss 1000 Rettungspunkte zusammenkommen, ist gar nicht mehr wichtig, sondern was in einem selbst passiert ist. Und dass da ein solidarisches Band zwischen Menschen entstanden ist, die einander vorher kaum oder gar nicht kannten (und sich selbst vielleicht auch nicht). Und dass dieses von Dramazone aus Bad Frankenhausen originär selbst entwickelte Format genau die Länge hat, die es braucht, um dahin zu gelangen.
Es war mir eine große Freude, dass diese Performance einen der beiden Publikumspreise erhielt. Warum habe ich bloß vergessen, die vier zu umarmen? Es sei hiermit nachgeholt.

Kay Gürtzig / Fotos Dr. Bernd Seydel