15.06.2014

STERNENHAGEL - voll in stabiler Seifenlage

Gehört das hierher?

Kontroverse Diskussionen eilen dem Stück "Sternenhagel" vom theater-spiel-laden Rudolstadt bereits voraus. Es werden Fragen laut. Wie, Komödie mit Liedern? Schunkelparadies? Ist das freie Szene?
Die Jury beruhigt, auch diese Art von Theater sei Teil von Thüringens vielfältiger freier Theaterlandschaft. Aber auch der theater-spiel-laden ist sich unsicher. Ist dieses Stück für das Festivalpublikum geeignet? Oder ist das nur etwas für die Älteren?
Die Spannung steigt. Funken in der Nacht. Der Sternenhagel beginnt und die bis dato größte Anzahl an festivalfernen Gästen sitzt mit den Avant-Art-Gesichtern unter der großen Linde. Ein zweiter Rekord wird aufgestellt: Der meiste Szenenapplaus. Und trotzdem verlassen einige jetzt den Aufführungsort. Nicht erkennbar, ob aufgrund von Unerträglichkeit oder Terminnot. Nach der Pause gelichtete Reihen und auf dem papiernen Nachgesprächsblog der offenen Redaktion steht groß die Frage: "Gehört das hierher?"
Aber "Sternenhagel" ist hier und unterhält jetzt im zweiten Teil temporeich und spielstärker das Publikum. Was Unterhaltung dabei für jeden Einzelnen bedeutet, ist nicht klar. Spaß, Spannung, Provokation? Doch es wird gelacht, gejubelt und geschunkelt, gesungen, auch unüberhörbar kommentiert. Nach dem Stück gibt es die Forderung nach Zugabe, extra Applaus für den Akkordeonspieler und standing ovations. Bei Bier und Sternhagelflipp wird dann weiter diskutiert.


Fünf Punkte, warum ich finde, dass "Sternenhagel" zum Avant Art gehört:
  1. Oft spielt die freie Szene auch  nur für die freie Szene. Aber dieses Stück begeistert nachweislich auch älteres Publikum, das sich erinnern möchte. Fans, die jene Inszenierung schon zwei Mal vorher sahen, kamen auch zu dieser Festivalvorstellung und
  2. sorgten so für Einnahmen durch Nicht-Festivalteilnehmer. Damit können - wenn auch nur geringe - Teile der Ausgaben gedeckt werden.
  3. Der theater-spiel-laden Rudolstadt ist ein Urgestein der freien Theaterszene. Ein eingespieltes Ensemble, dem man die Spiellust anmerkt. Die Regisseurin schrieb die Rollen ihren Spielern auf den Leib, kannte Vorlieben und erkannte Möglichkeiten. Liebe und Herzblut steckt hier in der Inszenierung.
  4. Theater hat den Auftrag zu unterhalten. Auftrag erfüllt.
  5. "Sternenhagel" regt zum Gespräch an und ein Festival ohne Diskussion ist ein totes Festival.
 Imke Bachmann



Alles kaputt

Ist Theater dann erfolgreich, wenn es provoziert und polarisiert, oder eher, wenn es gut unterhält? Und schließt das eine das andere unbedingt aus?

Das vielleicht Erhellendste für mich an der Produktion „Sternenhagel“ des theater-spiel-ladens (tsl) Rudolstadt ist, wie sehr die Wirkung vom Aufführungsumfeld abhängen, ja unter Umständen bis zur völligen Umkehrung führen kann. Die im Festivalnamen ausgedrückte Ambition, an der Spitze der Kunst der Zeit zu sein, kann einsam machen, birgt sie doch durchaus das Risiko, zu viel Bewährt-Funktionierendes einem hohen Originalitätszwang zu opfern und dabei das Band zum Publikum zu zerreißen. Es stellt sich dann immer wieder die Frage, für wen man Theater macht: Für sich selbst, ein Fachpublikum oder „die Massen“? Der erste Adressat sollte unbedingt dabei sein, aber lassen sich alle drei immer vereinbaren?
Wo sich Menschen zusammengefunden haben, die auf der Suche nach neuen Formen sind und dazu notwendig den Bruch mit Sehgewohnheiten wollen, kann manchmal der Rückgriff auf Traditionell-Bodenständiges zum konsequentesten Bruch dieser Erwartungshaltung werden.
In dieser Hinsicht markierte der Beitrag des tsl zum Festival einen deutlichen Kontrast und damit zugleich die große Bandbreite der Thüringer Amateurtheaterszene. Er widmete sich ganz bewusst dem Lebensgefühl der älter werdenden Generation in der kleinstädtischen und ländlichen Heimatregion und traf auch ganz offensichtlich deren Nerv. Das gelang nicht zuletzt, weil die SpielerInnen selbst dieser Generation angehören und sich mit Eifer dem Spiel und Gesang hingeben.
Die Rahmenhandlung thematisierte vielfältige Verluste (Ehepartner, berufliche Erfüllung, Jugend, Liebreiz, Freundschaft, soziale Sicherung, Kneipen mit Saal, ausgelassene Feste mit selbst gespielter und gesungener Musik), stellvertreten durch vier mehr oder minder gebrochene Figuren (Feuerwehrmann, Kneiperin, spätes Mädchen, depressiver Dorfmusiker), deren Wege sich in trister Regelmäßigkeit im Biergarten „Sternenhagel“ kreuzen. Ein fremder Gast wird zur Projektionsfigur und Hoffnung sowie zum Anlass für munteres Kalauern und einen umfangreichen und humorigen Querschnitt der Schlager vergangener Jahrzehnte. Das Freilichtmuseum der Rudolstädter Bauernhäuser war der denkbar passendste Rahmen dafür. Das Publikum nahm es gemäß seiner Zusammensetzung mit Überraschung, Heiterkeit, Reserviertheit oder Belustigung auf.

 
Vielen Festivalteilnehmern (auch mir) verlor sich die in der Figurenkonstellation angelegte Tragik gar zu rasch im Tralala der "Schmachtfetzen"-Klänge, da büßten die Charaktere ihre Glaubwürdigkeit ein, auch wenn man vielleicht das Heitere als Ausweg aus Lebenskrisen akzeptieren mag. Naja, und Schlager erzeugen schnell Ohrenkrebs bei mir. Dafür war mir die parodistische Brechung doch wieder zu gering. Muss deshalb hier gleich der gallige Ritualkommentar "Alles kaputt" des Feuerwehrmanns anwendbar sein? 

 

Gut gesungen war es immerhin. Mit einigen Zugaben klang die letzte Vorstellung dieses zweiten Festivalabends unter Schunkeln in mehreren Sitzreihen aus.

Kay Gürtzig