14.06.2014

BAHNHOFSKATHEDRALE: Trash mit Dynamit

Wunder über Wunder!

Ein Text von Michael Ende auf der Bühne? Das macht mich immer neugierig. Eine Erzählung „Bahnhofskathedrale“ ist mir keineswegs geläufig. Auch die Genre-Bezeichnung zwischen Schauspiel und Live-Hörspiel lässt Interpretationsspielraum. Da weiß ich noch nicht, wie treffend der seltsame Name „candlelight dynamite“ der jungen Erfurter Theatergruppe ist.
Die Bühne wird von einem großen barock anmutenden Tisch beherrscht, auf, neben und um den herum ein Wirrwar undefinierbarer Spielgegenstände keine sinnvolle Prognose des in Kürze zu Sehenden und zu Hörenden zulässt. Ein Spieler sitzt in bläuliches Licht getaucht hinter einem Mikrofon am Tische. Zwei weitere Ensemble-Mitglieder wuseln auf der Bühne herum. Ein schrilles Intro wirft den Namen der Produktion, „Bahnhofskathedrale“, in die Ohren, dann entfaltet sich ein Wahnsinn, der doch nichts ist gegen den ganz realen Wahnsinn, den er karikiert. In einem genial-irrwitzigen Performance-Strudel aus Lesung, Spiel und Objekt-Theater werden etwa Luftballons und Nähnadeln zu Planetoiden, Spielzeugfiguren zu Alter Egos der Spieler, eine Godzilla-Handpuppe zum schmierigen Papst der entfesselten Finanzwirtschaft. Trash jeder Art illustriert den atemberaubend aktuellen Text Michael Endes. Die drei Spieler schlüpfen in verschiedene Rollen oder lassen diese mit Hilfe bewusst verfremdeter Objekte und Masken entstehen.


 
In der isoliert durchs Weltall driftenden Bahnhofskathedrale fahren keine Züge mehr ab. Ganze Heerscharen zerlumpter Menschen haben nur noch einen Sinn für das Scheffeln des sich auf wundersame Weise vermehrenden Geldes, aus dem die ganze ebenso unfertige wie gigantische Kathedrale aufgeschichtet ist. “Wenn jeder sich an jedem bereichert, sind am Ende alle reich“ ist eine der Weisheiten, die der Priester der Kathedralenaktien verkündet, um die letzten Neuankömmlinge und Verweigerer in den Dienst des aus dem Tabernakel quellenden Geldes zu locken. Auch das Wahre ist längst Ware. Eine Welt jenseits dieses monströs wachsenden Scheiterhaufens aus Geld-, Genuss- und Anteilsscheinen ist für keinen der hier Gestrandeten mehr erreichbar.


 

Der Text selbst ist ein Albtraum, dem  unsere gegenwärtige Welt immer ähnlicher zu werden sich anschickt. Die Spieler nutzen alles, was ihnen in die Finger kommt, einfallsreich für die Entfaltung des makabren Schauspiels unserer eigenen ökonomischen Verblendung.
Selten habe ich mit so überraschenden Mitteln eine so düstere Vision so überzeugend interpretiert gesehen und gehört.



Der Besuch dieser Inszenierung sollte zum Pflichtprogramm all der Investmentbanker, Anlageberater, Finanzminister und Regierungschefs werden, die gerade dabei sind, die in der Bahnhofskathedrale gepredigte Religion an uns allen auszuprobieren. Täglich, stündlich. Die Zeitbombe tickt...

Kay Gürtzig