Wirklich segensreich und erfreulich bei diesem Festival ist
die Breite der dargebotenen Formen und Stilrichtungen. Was sicher auch ein
Spiegelbild der Vielfalt der Thüringer Theaterszene ist. Ich bin ehrlich: Ohne
den Anlass des Festivals hätte ich mich wahrscheinlich gar nicht in eine so
artifizielle Performance wie das "Providurium" des Weimarer Jungen
Theaters im Stellwerk verirrt. Schon der Titel könnte als Kunstwort aus
Provisorium und Durabilität gedeutet werden - die ewige Baustelle sozusagen.
Hier wird keine Geschichte erzählt, werden nicht einmal
konkrete Personen oder Charaktere gezeigt. Beim Einlass versperrt ein Bauzaun
den Blick auf die Bühne, von der einem infernalischer Baustellenlärm
entgegenschlägt.
Dann Stille, ein ca. zehnminütiges Black, in dem sich eine
ganz langsam anschwellende Kakophonie von flüsternden und dann murmelnden
Stimmen erhebt, aus denen ich lange, sehr lange keine einzelnen Worte
herausfiltern kann. Und es verblüfft mich, wie lange man damit eine Spannung
aufrecht erhalten kann.
Ein schwaches Licht vom Bühnenhintergrund wirft
menschliche Silhouetten an den Bauzaun, noch immer "geschieht" -
nichts. Und doch verändern sich kaum merklich Licht, Intensität und Rhythmus
des unterlegten Sounds. Wenn der Zaun aufreißt, werden da drei Gestalten
sitzen, starr zunächst. Die Kostüme in verschiedenen Grautönen. Einer springt
auf, eilt zu verschiedenen Positionen und verharrt stehend mit festem und
zugleich leerem Blick in die Ferne. Es folgt eine Art Vermessung des Raumes mit
Körpern, Kreidelinien zerlegen die Fläche, etwas wie der Plan einer Straße mit
Abzweig zeichnet sich ab. Eine strenge Prozession weiterer grauer Wesen strömt
herein, die Frontfigur reißt unablässig Blätter vom Armbandkalender und
verstreut sie auf der Bühne. Ticken. Schließlich Maschinenlärm, die Figuren
gehen mechanisch durch den Raum, werden an den Kreidelinien und aneinander
rechtwinklig refelektiert. Worte setzen ein, formen sich zu Gruppen, manche
davon zu Sätzen. Seltsam unzusammenhängende Symbole einer technisierten
Arbeitswelt, die das gesamte Leben in ihren Rhythmus zwingt.
Wer zögert oder strauchelt, wird als lästiges Hindernis
beseite gedrängt oder wieder eingetaktet. Weiter, weiter, weiter. Ein Ziel?
Nicht zu sehen. Das Tempo nimmt zu. Die Körper der jungen Spieler folgen
maschinenartig einer komplexen, strengen Choreografie (Mandy Unger), die an
fast artistischer Präzision nichts zu wünschen übrig lässt.
Einmal werden sie wie erschöpft umsinken, beim dumpf
wummernden Infraschall eines anscheinend gigantischen Motors wird ein Spieler
immer wieder verzweifelt wie vergeblich versuchen, auf die Beine zu kommen.
Am Ende wird dann eine Gestalt unter Spannung in zwei
maskierte "Hälften" zerspringen (ich sah es zumindest so), die in
einem schier endlosen Reigen einen bizarren Ringkampf miteinander austragen.
Identifikationsmöglichkeiten und direkt narrative Elemente
vermied die Inszenierung ganz bewusst.
Dafür lieferte Regisseur Lucian
Patermann mit seinem tollen Ensemble Deutungsangebote ohne Eindeutigkeit, aber
von großer Eindringlichkeit. Eine Poesie der Bewegungen, der Bilder, Klänge und
Texte auf einer Abstraktionsebene, die im Amateurtheater selten ist und zwar
die Sinne, aber weniger das Gefühl bedient, den Intellekt unter Umgehung des
Herzens fordert. Und dann doch irgendwie auch dort ankommt. Die einen inneren
Zustand evoziert, der emotionalen Wiedererkennungseffekt im Reiche der eigenen
Albträume hat.
"Wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug
Asche Atem." Das sind so Textfetzen, aus denen eine auch im Programmheft
abgebildete abstrakte Zeichnung entstand, die ich rückblickend intuitiv als
eine symbolische Karte der Choreographie las und damit fast richtig lag, wie
mir Martin Werner als einer der Rezitatoren des Stücks bestätigte. Tatsächlich
entwickelten die jungen Leute ihre Bewegungsfolgen in freier Assoziation aus
dieser Graphik.
Chapeau, liebe Stellwerker.
Kay Gürtzig / Fotos Dr. Bernd Seydel