27.10.2012

INTELLEKT UNTER UMGEHUNG DES HERZENS FORDERN

Wirklich segensreich und erfreulich bei diesem Festival ist die Breite der dargebotenen Formen und Stilrichtungen. Was sicher auch ein Spiegelbild der Vielfalt der Thüringer Theaterszene ist. Ich bin ehrlich: Ohne den Anlass des Festivals hätte ich mich wahrscheinlich gar nicht in eine so artifizielle Performance wie das "Providurium" des Weimarer Jungen Theaters im Stellwerk verirrt. Schon der Titel könnte als Kunstwort aus Provisorium und Durabilität gedeutet werden - die ewige Baustelle sozusagen.

Hier wird keine Geschichte erzählt, werden nicht einmal konkrete Personen oder Charaktere gezeigt. Beim Einlass versperrt ein Bauzaun den Blick auf die Bühne, von der einem infernalischer Baustellenlärm entgegenschlägt. 





Dann Stille, ein ca. zehnminütiges Black, in dem sich eine ganz langsam anschwellende Kakophonie von flüsternden und dann murmelnden Stimmen erhebt, aus denen ich lange, sehr lange keine einzelnen Worte herausfiltern kann. Und es verblüfft mich, wie lange man damit eine Spannung aufrecht erhalten kann. 

Ein schwaches Licht vom Bühnenhintergrund wirft menschliche Silhouetten an den Bauzaun, noch immer "geschieht" - nichts. Und doch verändern sich kaum merklich Licht, Intensität und Rhythmus des unterlegten Sounds. Wenn der Zaun aufreißt, werden da drei Gestalten sitzen, starr zunächst. Die Kostüme in verschiedenen Grautönen. Einer springt auf, eilt zu verschiedenen Positionen und verharrt stehend mit festem und zugleich leerem Blick in die Ferne. Es folgt eine Art Vermessung des Raumes mit Körpern, Kreidelinien zerlegen die Fläche, etwas wie der Plan einer Straße mit Abzweig zeichnet sich ab. Eine strenge Prozession weiterer grauer Wesen strömt herein, die Frontfigur reißt unablässig Blätter vom Armbandkalender und verstreut sie auf der Bühne. Ticken. Schließlich Maschinenlärm, die Figuren gehen mechanisch durch den Raum, werden an den Kreidelinien und aneinander rechtwinklig refelektiert. Worte setzen ein, formen sich zu Gruppen, manche davon zu Sätzen. Seltsam unzusammenhängende Symbole einer technisierten Arbeitswelt, die das gesamte Leben in ihren Rhythmus zwingt.
Wer zögert oder strauchelt, wird als lästiges Hindernis beseite gedrängt oder wieder eingetaktet. Weiter, weiter, weiter. Ein Ziel? Nicht zu sehen. Das Tempo nimmt zu. Die Körper der jungen Spieler folgen maschinenartig einer komplexen, strengen Choreografie (Mandy Unger), die an fast artistischer Präzision nichts zu wünschen übrig lässt.
Einmal werden sie wie erschöpft umsinken, beim dumpf wummernden Infraschall eines anscheinend gigantischen Motors wird ein Spieler immer wieder verzweifelt wie vergeblich versuchen, auf die Beine zu kommen.

Am Ende wird dann eine Gestalt unter Spannung in zwei maskierte "Hälften" zerspringen (ich sah es zumindest so), die in einem schier endlosen Reigen einen bizarren Ringkampf miteinander austragen.
Identifikationsmöglichkeiten und direkt narrative Elemente vermied die Inszenierung ganz bewusst. 

Dafür lieferte Regisseur Lucian Patermann mit seinem tollen Ensemble Deutungsangebote ohne Eindeutigkeit, aber von großer Eindringlichkeit. Eine Poesie der Bewegungen, der Bilder, Klänge und Texte auf einer Abstraktionsebene, die im Amateurtheater selten ist und zwar die Sinne, aber weniger das Gefühl bedient, den Intellekt unter Umgehung des Herzens fordert. Und dann doch irgendwie auch dort ankommt. Die einen inneren Zustand evoziert, der emotionalen Wiedererkennungseffekt im Reiche der eigenen Albträume hat.

 "Wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Asche Atem." Das sind so Textfetzen, aus denen eine auch im Programmheft abgebildete abstrakte Zeichnung entstand, die ich rückblickend intuitiv als eine symbolische Karte der Choreographie las und damit fast richtig lag, wie mir Martin Werner als einer der Rezitatoren des Stücks bestätigte. Tatsächlich entwickelten die jungen Leute ihre Bewegungsfolgen in freier Assoziation aus dieser Graphik.
Chapeau, liebe Stellwerker.

Kay Gürtzig / Fotos Dr. Bernd Seydel