Der Opener der beim Festival "Avant Art" in Weimar
gezeigten preiswürdigen Inzenierungen freier Thüringer Theater zeigte in
beeindruckender Weise, wie modern und mitreißend Theater heute sein kann.
"Fall Out Girl" hieß die Gemeinschaftsproduktion
der Theaterscheune Teutleben und Mass und Fieber Ost mit weiteren
Kooperationspartnern. Sie war als "radioaktive Roadshow"
attributiert, und entsprechend verstrahlt fühlte ich mich denn auch gleich nach
wenigen Minuten. Will heißen, sie zauberte ein geradezu unheimlichen Leuchten
in mein Gesicht, das bis zum Schluss und darüber hinaus anhielt. Nur zwei Spieler waren auf der Bühne, aber die zeigten als
Allround-Profis ununterbrochen eine Wahnsinnspräsenz, sie spielten, tanzten und
musizierten einen bunten Reigen aus absurd-schönen szenischen Verrücktheiten
ab, der minutiös choreografiert sein musste, anders bekäme man das nicht so
leicht und manchmal wie improvisiert wirkend auf die Bühne. Nicht bei der
Energie. Da konnte man nur fasziniert dasitzen, wenn einem nicht gerade ob der
skurrilen, witzigen Details das Zwerchfell zuckte.
In gekonnt gemachten Videosequenzen geben unter Anderem
Orson Welles (Jonas Zipf), Marie Curie (Eva-Maria Pichler) und Schrödingers
(Grinse-)Katze Hinweise, wo in der gerade angebrochenen Zukunftswelt das Fall Out
Girl (Antonia Labs) mit Hilfe des weltflüchtigen Comic-Handlers Bartleby
(Johannes Geißer) ihren Ehemann Peter Parker finden könnte. Ja, genau der Peter
Parker, dessen alter ego als Spiderman die Schurken der Comic-Welt bekämpft. Er
sei auf mysteriöse Weise im "Laboratoire" der Netix Corp.
verschollen, für die er gearbeitet habe. Und da war die Welt schon mit solchen
Laboratoires überzogen, in denen mit Radioaktivität, spinnenfadenproduzierenden
Gen-Schafen und dem Klonen von Menschen experimentiert wird.
Die Roadshow verarbeitet dabei in deutschen und englischen
Versatzstücken so viele Anspielungen und Motive aus Wissenschaft, Science
Fiction, Gesellschaftsdiskursen, Film- und Literaturgeschichte und rührt diese
mit schmissig und gut live dargebotenen Pop- und Rocksongs zusammen, dass einem
schon bald das Absurdeste völlig natürlich vorkommt. In all diesem wirren und
irren Mix gelingt es der Regie wie auch den Darstellern, eine Art märchenhafte
Story zu erzählen, deren durchgeknalltes Ende dann schon wieder strikt
folgerichtig erscheint.
Die Musik reißt mit, selbst wenn man den teils englischen
Texten, die unbedingt auch Leckerbissen sind, so schnell nicht folgen kann.
Denn die Akteure sind schlicht brilliant.
Wieviele Zeichen habe ich hier noch? Denn ich möchte so
viele schöne Beispiele aus dieser Roadshow wiedergeben, wohl wissend, dass es
nicht annähernd den Genuss des eigenen Erlebens dieses wohl zu Recht mit dem
Preis der Jury bedachten Kunstwerks ersetzen kann. Deshalb: Wo immer diese
radioaktive Theaterarbeit angekündigt sein sollte: Hingehen! Unbedingt! Freunde
mitnehmen!
Vielleicht doch noch ein paar "Teaser"? Da
insistiert das Girl gegenüber Bartleby ein gefühltes Dutzend mal in Folge, ob
er mit ihr zusammen sein möchte, und jedes Mal gelingt ihm eine neue
ausweichende Antwort, hinter der man sich geradezu quälend plastisch das berühmt-berüchtigte
"I prefer not to" der bekannten Bartleby-Figur von Herman Melville
vorstellen kann, ohne dass diese schlichte Floskel wirklich benutzt wird.
Dass neuerdings im Kyffhäuser statt Barbarossa ein mutierter
Donald Duck endgelagert ist, konnte ich bei diesem Stück nebenbei erfahren.
Theater bildet eben. Und es macht unheimlich viel Spaß.
Und wenn dann der rettende gelbe Hubschrauber sich beim
Aufsteigen als riesiges aufgeblasenes Pokemon-Vieh herausstellt, dann wird
einem unter Schmunzeln bewusst, dass dieses Stück Theater wirklich einem jungen
Publikum kompatibel ist.
Bitte mehr davon! So inspiriertes Theater macht süchtig.
Aber andere Formen natürlich auch, und davon werden wir ja an den beiden
Folgetagen auch noch Einiges zu sehen bekommen.
Kay Gürtzig / Foto Marius Luhn