26.10.2012

FALL OUT GIRL - BITTE MEHR DAVON!


Der Opener der beim Festival "Avant Art" in Weimar gezeigten preiswürdigen Inzenierungen freier Thüringer Theater zeigte in beeindruckender Weise, wie modern und mitreißend Theater heute sein kann.

"Fall Out Girl" hieß die Gemeinschaftsproduktion der Theaterscheune Teutleben und Mass und Fieber Ost mit weiteren Kooperationspartnern. Sie war als "radioaktive Roadshow" attributiert, und entsprechend verstrahlt fühlte ich mich denn auch gleich nach wenigen Minuten. Will heißen, sie zauberte ein geradezu unheimlichen Leuchten in mein Gesicht, das bis zum Schluss und darüber hinaus anhielt. Nur zwei Spieler waren auf der Bühne, aber die zeigten als Allround-Profis ununterbrochen eine Wahnsinnspräsenz, sie spielten, tanzten und musizierten einen bunten Reigen aus absurd-schönen szenischen Verrücktheiten ab, der minutiös choreografiert sein musste, anders bekäme man das nicht so leicht und manchmal wie improvisiert wirkend auf die Bühne. Nicht bei der Energie. Da konnte man nur fasziniert dasitzen, wenn einem nicht gerade ob der skurrilen, witzigen Details das Zwerchfell zuckte.

In gekonnt gemachten Videosequenzen geben unter Anderem Orson Welles (Jonas Zipf), Marie Curie (Eva-Maria Pichler) und Schrödingers (Grinse-)Katze Hinweise, wo in der gerade angebrochenen Zukunftswelt das Fall Out Girl (Antonia Labs) mit Hilfe des weltflüchtigen Comic-Handlers Bartleby (Johannes Geißer) ihren Ehemann Peter Parker finden könnte. Ja, genau der Peter Parker, dessen alter ego als Spiderman die Schurken der Comic-Welt bekämpft. Er sei auf mysteriöse Weise im "Laboratoire" der Netix Corp. verschollen, für die er gearbeitet habe. Und da war die Welt schon mit solchen Laboratoires überzogen, in denen mit Radioaktivität, spinnenfadenproduzierenden Gen-Schafen und dem Klonen von Menschen experimentiert wird.

Die Roadshow verarbeitet dabei in deutschen und englischen Versatzstücken so viele Anspielungen und Motive aus Wissenschaft, Science Fiction, Gesellschaftsdiskursen, Film- und Literaturgeschichte und rührt diese mit schmissig und gut live dargebotenen Pop- und Rocksongs zusammen, dass einem schon bald das Absurdeste völlig natürlich vorkommt. In all diesem wirren und irren Mix gelingt es der Regie wie auch den Darstellern, eine Art märchenhafte Story zu erzählen, deren durchgeknalltes Ende dann schon wieder strikt folgerichtig erscheint.
Die Musik reißt mit, selbst wenn man den teils englischen Texten, die unbedingt auch Leckerbissen sind, so schnell nicht folgen kann. Denn die Akteure sind schlicht brilliant.

Wieviele Zeichen habe ich hier noch? Denn ich möchte so viele schöne Beispiele aus dieser Roadshow wiedergeben, wohl wissend, dass es nicht annähernd den Genuss des eigenen Erlebens dieses wohl zu Recht mit dem Preis der Jury bedachten Kunstwerks ersetzen kann. Deshalb: Wo immer diese radioaktive Theaterarbeit angekündigt sein sollte: Hingehen! Unbedingt! Freunde mitnehmen!

Vielleicht doch noch ein paar "Teaser"? Da insistiert das Girl gegenüber Bartleby ein gefühltes Dutzend mal in Folge, ob er mit ihr zusammen sein möchte, und jedes Mal gelingt ihm eine neue ausweichende Antwort, hinter der man sich geradezu quälend plastisch das berühmt-berüchtigte "I prefer not to" der bekannten Bartleby-Figur von Herman Melville vorstellen kann, ohne dass diese schlichte Floskel wirklich benutzt wird.
Dass neuerdings im Kyffhäuser statt Barbarossa ein mutierter Donald Duck endgelagert ist, konnte ich bei diesem Stück nebenbei erfahren. Theater bildet eben. Und es macht unheimlich viel Spaß.
Und wenn dann der rettende gelbe Hubschrauber sich beim Aufsteigen als riesiges aufgeblasenes Pokemon-Vieh herausstellt, dann wird einem unter Schmunzeln bewusst, dass dieses Stück Theater wirklich einem jungen Publikum kompatibel ist.

Bitte mehr davon! So inspiriertes Theater macht süchtig. Aber andere Formen natürlich auch, und davon werden wir ja an den beiden Folgetagen auch noch Einiges zu sehen bekommen.

Kay Gürtzig / Foto Marius Luhn