13.06.2014

KABALE UND LIEBE: Alles im Chor, nicht alles im Lot

stellwerk - das junge theater in Weimar beginnt die Aufführungsreihe mit Schiller

Eine chorische Betrachtung

Stimme 1

1788 ist Schiller in Rudolstadt, 2014 ist das Avant Art in Rudolstadt, macht den Anfang mit „Kabale und Liebe“.
In der zwölften Reihe sitzt das Bürgertum.
Von hier aus erleben wir die Spieler nicht hautnah. Von hier aus sind die Gesichter runde rosige Kreise. Hier verstehen wir nur die Hälfte der Sätze.
Die Premiumplätze sind wohl die auf der Bühne. Dafür gehört der dort platzierte Adel für uns zum Gesamtbild. Sie geben dem ganzen Spiel einen lachenden, singenden und klatschenden Rahmen. Hier tun sich starke geometrische Formen auf. Bilder vom Flehen, von Liebe, Überzeugungsgewalt und Eifersucht wiederholen sich in allen Ecken, finden in der Mitte zusammen, nur um dann wieder in alle Richtungen verstreut zu werden. Eine synchrone Symphonie, durch Schillers Sprache zusammengehalten. Der Arbeitsprozess muss enorm gewesen sein, das chorische Sprechen in solch einer Präzision und Stimmgewalt so leicht und natürlich auf die Bühne zu bringen. Von hier oben ist kein Anatmer zu vernehmen. In den für mich stärksten Momenten brechen die simultanen Bewegungen auf. Ferdinand übergießt im oberen rechten Eck Luises Haupt, im unteren linken Eck wiegen sich Luise und Ferdinand im Todestanz. Nicht nur eine Geschichte kann so erzählt werden. Schillers Erzählung wird sich hier vor unseren fernen Augen zu Eigen gemacht. Eine Gefühlslawine überrollt mich. Ja, jetzt dürfen sie sterben.
Die Melodien verdichten die Emotionen der Rollen und ich bin begeistert von der Musikalität der PerformerInnen, ich lache bei dem Spiel von Father and Son, aber aus subjektiver Sicht sind sie mir eine Nummer zu dick. Denn durch die enorme Körperpräsenz, die die Amateure auf die Bühne bringen und die auch keineswegs durch den Sprechaufwand gemindert wird, wird sogar das Bürgertum in der letzten Reihe bis zum tragischen Finale mitgerissen.

Imke Bachmann





Stimme 2

Während die neugierigen Festivalbesucher auf die Tribünen beiderseits des bespielten Teils der Bühne strömen, agieren junge Menschen seltsam auf letzterer. Ein Mädchen zählt laut Zuschauer, die anderen gefallen sich in coolen Posen und Rempeleien. Schulhofspiele vor Publikum? Okay – und was hat das jetzt mit Kabale und Liebe zu tun? Dann ein Rap. Das Schillersche Drama in die Facebook- und Feierwelt des Teenie- und Twen-Milieus geholt? Als Zickenkrieg in der Disko? Das könnte nichtalltägliche Interpretationen versprechen, ich bin nur noch unsicher, ob mich das überzeugen wird. Wo will diese Inszenierung hin?

Dann chorische gesprochene Sätze aus Schillers Feder. Doch wer sollen die sein, die da jetzt synchron den gleichen Text sprechen? Den – akustisch nicht immer leicht entschlüsselbaren – Worten nach zu urteilen wohl die Millerin, Luises Mutter. Wer ist indes ihr Gegenüber? Junge Männer mit Sonnenbrille, teils mit Hut. Ferdinand? Wurm? Der Präsident? Offenbar wechseln die Charaktere: Dieselben Spieler – und immer gleich mehrere, in verschiedene Himmelsrichtungen aufgestellt – spielen (oder sprechen eher nur) offenbar mal diese oder jene Figur des Dramas. Das strengt an, was soll das? Der Text ist original und fällt somit aus dem behaupteten Hier und Heute heraus. Wohin will diese Inszenierung?

Das durchgängig Chorische und die immer wieder mit Symmetrie und Spiegelungen arbeitende Choreographie sind eine interessante Idee, die offenkundig eine enorme Arbeit erforderten, damit das einigermaßen funktioniert. Da liegen aber auch die Risiken. Die zehn Spielerinnen und Spieler müssen sich synchronisieren – zulasten des Spiels. Am besten funktioniert dies aus meiner Sicht immer da, wo jedem der Spieler bewusst eine ganz individuelle Interpretation der Rolle gestattet wird, als etwa vier Ferdinands mit völlig unterschiedlicher Emotion den Fund des Luise intrigant abgenötigten falschen Liebesbriefs verarbeiten (der eine lacht, der andere weint, der dritte rast, der vierte brütet), um dann doch gleichzeitig in Zorn, in dieselbe ungläubige Verzweiflung zu münden. In solchen Momenten rechtfertigt die Chance der synchronen Multiplizität ganz verschiedener glaubwürdiger Darstellungen den chorischen Ansatz, denn in einer normalen Inszenierung müsste man sich notwendigerweise auf eine davon beschränken.
Doch über weite Strecken will so Schönes eben leider nicht ganz gelingen.

Live gespielte, getanzte und gesungene Einlagen suchen wohl die Brücke zum publikumswirksamen Musical, was gerade gegen Ende wirklich wunderbare Höhepunkte ergreifender emotionaler Unterstreichung der Handlung bietet und auch das hohe Können der Akteure demonstriert. Auch humorige Brechungen der Dramavorlage schaffen die Weimarer stellwerker, etwa bei der Nötigung Luises durch einen kollektiv ränkeschmiedenden Wurm zum Verfassen des in der Konsequenz tödlichen Briefs oder bei einer Vermischung des Präsidententexts mit englischen Textbrocken des dabei gespielten Musiktitels.
So ragen für mich beeindruckende und verblüffende Momente aus Passagen heraus, denen man einen eher etwas manieristischen Charakter nicht ganz absprechen kann.
Entsprechend differenzierten denn auch die Bewertungen der Zuschauer nach der Vorstellung. Trotzdem schön, dass es sie auf diesem Festival zu sehen gab, zumal auch deutlich wurde, mit welchem Mut und welcher Begeisterung und Bühnenpräsenz das Spielerteam gemeinsam das Ganze umsetzte und präsentierte, was sich bis in die nach den beiden Bestuhlungsrichtungen verschränkte Applausordnung fortsetzte.

Kay Gürtzig